22 Mai 2015

Der schöne Mai (fragmentiert)

Ich fühle mich überall zuhause, weil ich nirgends hingehöre und es niemanden gibt, mit dem ich dieses Gefühl teilen muss, weil es niemanden gibt, für den ich ein bestimmtes Gesicht machen muss.
Meiner Einsamkeit habe ich nichts entgegenzusetzen, keinen Fluch, keine vulgäre Geste, keinen heroischen Blick. Nichts was mich umgibt, hängt an mir, nirgends bin ich verfangen. Ich mag die Idee, das seltsame Musik mich in einen Zwischenraum absondert. Meine Gedanken sind eine Reihe abstrahierter, unbewiesener Gefühle. Das Telefon hat keine Lust zu klingeln, umwickelt mich mit Stille die nach frischgewaschener Wäsche riecht. Die Lust, einen Kollaps zu provozieren und die Angst vor ewiger Sprachlosigkeit entfachen einen Druck in meinem Gehirn, der meinem Ichgefühl schwammige Substanz verleiht. Ich höre die Kammersymphonie von Schönberg und lese wie damals die Leute reagiert haben.

Ich warte darauf, dass das Telefon klingelt. Dieses Warten macht etwas in mir müde, damit etwas anderes sich durchsetzen kann: ein bitterer Zynismus, der mich von allem isoliert, was keinen Grund hat, mein Leben zu verderben. Indem ich diese Isolation mich erdrücken lasse, vertiefe ich mich in meine Existenz, gelange ich zum Kern meiner Möglichkeiten. Der Gedanke daran, dass ich mich in einem Weltall befinde, wird mich irgendwann vor allem, was mich umgibt, zurückschrecken lassen - oder ich werde zum ersten und auch letzten Mal versuchen, plötzlich all meine Kraft in einem apokalyptischen Krampf durch meinen Körper in mein Leben stürzen lassen.

Weil mich niemand liest, kann ich niemanden enttäuschen. Ich will in den Trümmern meines Talents tanzen und strahlen und mich gründlich verwirklichen wie Götter sich verwirklichen, indem sie sich im Kreis drehen und "Ich existiere" schreien - dieses Schreien ist die Grundsubstanz der Existenz, so wie mein Schreien die Grundsubstanz meines Gehirns formulieren und festigen würde, wenn ich es nur erlauben würde. Doch ich tue nichts, ich enthalte mich allem, denn ich bin kein Gott: ich bin der Sohn brutaler, gelangweilter Fließbandarbeiter, der kein brutaler, gelangweilter Fließbandarbeiter sein will, aber vielleicht im tiefsten Inneren genau das ist und sich niemals neu erfinden kann, ich esse Grapefruit und höre DNA (die No-Wave-Band) und die mir bevorstehende Leere dieser eben aufgeblühten Nacht will mich euphorisch machen - nein, es ist keine Euphorie, es ist der Zusammenbruch meines Ichs, der sich mir durch eine zarte, lustvoll-zitternde Panik ankündigt.

Kaputte Musik will die Alltagssprache des Zuhörers zersetzen. Wer sich zu stottern schämt, wer nicht in Interjektionen und Imperativen vom Frühling reden will, sollte keinen experimentellen Jazz und keine serielle Musik hören wollen.

Warum war die Kassiererin heute so böse und biestig? Ich habe keine Lust sie jemals wiederzusehen. So viel ekelhafte Biester überall! Wann immer sie an meinem Haus vorbeigehen, treten sie die schönen Blumen kaputt, die ich vor Jahren mit meiner Mutter angepflanzt habe. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich nochmal Lust habe, neue Leute kennenzulernen. Vielleicht ist meine Verweigerungshaltung irgendwann etwas wert.

Ich spüre, wie mein Bedürfnis zu entscheiden, ob der berauschte oder der nüchterne Zustand als der normale, grundlegende Hauptstrom des Lebens gelten soll, von mir davonflattert und mein Herz zieht sich etwas Gemütliches an und legt sich in das herbsttrübe Wirrwarr, das wie ein sanftes Unwetter in diesen hellen Tag zieht, den ich in meinem blauen Zimmer verbringe. Ich spüre, dass ich mit Leib und Seele Schriftsteller bin, die Musik schiebt mir Wellen der Selbstgenügsamkeit rüber wie entspannende Drinks ohne Alkohol. Aufgeregtes Nirgendsein am Rand der immerwährenden Kindheit. Was hält mich fest so zu sein wie ich bin? Hier hinten ist einfach nichts mehr! Ich lache. In dieser Kammer namens Kopf ist einfach nichts mehr!! Ich lache so heftig, dass ich mich nicht wundern würde, wenn die Wände Risse bekämen. Woher kommt diese idiotische Freude? Ich hab ein gelbes Gesicht und falle wie ein riesiger, lustiger, plantschwütiger Hund mit dem Gesicht in einen Eimer gelber Götterspeise.

Frei von der Unterscheidung, was normal und nicht normal ist, befindet man sich in einem permanenten Rausch. Hier ist alles besonders und bedeutend. Ich turne hier auf meinem Fleisch, auf meinem Gehirn herum, wie eine fiebrige Maus auf einer Kugel Spaghetti. Lauf lauf lauf, das Lied ist gleich vorbei! Wir werden alle nicht junger, du musst einfach deinem Weg folgen, du bist eben das, was du bist, mach einfach weiter, frag dich nicht, ob es noch welche wie du gibt, schau, sie sind überall! Sie sind überall!

Du musst entscheiden, nach dem Vorbild welchen Regisseurs du deine Tage leben willst. Dann such dir die Utensilien zusammen und leg dich hin. Ja, leg dich doch einfach auf den Boden, wenn die Bauarbeiter kommen, wie ein Kind, das nicht die Tür aufmachen will, weil es das Bad überflutet hat und nicht weiter weiß. Kooperiere nicht! Öffne nicht die Tür! Verliere jedes Verständnis für die Anderen! Es lohnt sich nicht zu verstehen, was die Anderen wollen! Indem du dir vorstellst, dass sie mächtiger sind, sind sie es auch. Wenn du nicht einsehen kannst, was hier vor sich geht, bist du viel mehr bei deinem Körper und Geist. Du wirst hier rausgeschmissen. Warum solltest du kooperieren? Warum solltest du die Sachen packen? Du kannst genau so gut liegenbleiben. Was spricht dagegen? Die Anderen! Die Anderen in dir! Schmeiß sie doch raus!

Wo werde ich bald wohnen? Es geht bald zu Ende hier. Ein intensives Versacken in den bunten, weichen Moment am Rand des Bettes, am Rand des Tages, am Rand einer Ära.

"An wen könnte ich mich noch anpassen?", leuchtet eine sternenklare Melancholie aus meinem Gesicht.

Das Leben kann auch bloß ein Rummel sein, wenn du magst, mein Kindchen! Du musst nicht mitmachen, wenn du nicht willst! Welche Eltern reden so?

Meine Lederjacke versteckt meine Verzärtlichung, meine Biegbarkeit, meine Instabilität. Bloß nicht zu viel Gefühl blicken lassen.

Solang ich nicht weiß, dass das, was ich schreibe, gelesen wird, kann ich auch nichts Lesenswertes schreiben, ich kann Euch nur zeigen was ich für einer bin, damit ihr abschätzen könnt, was aus mir werden wird, wenn ich mal berühmt bin.
Wie wird er sich in der Öffentlichkeit aufführen? Das ist eine der ersten Fragen, die man sich stellt, wenn man sich als Verleger auf einen unbekannten Autor einlässt.
Ich fahre aus verschwommener Vergangenheit in ein dunkles Morgen hinein auf einem bunten Jetzt-Luftkissen.

Oft soll die Ausschüttung von Sexualhormonen bloß gegengeschlechtliche Feinde anlocken, um sie dann töten und fressen zu können. Mordlust ist lebensnotwendig, wenn man allen Glauben verloren hat. "Naja, bei dem einen so, bei dem anderen so", sag ich mit einem gelangweilten Lächeln, da das Publikum immer leiser werdend Anlauf für einen brüllenden, giftigen Wutausbruch zu nehmen scheint.

Die selben endlos grauen, leeren Tage, jeden Tag alle Unvermeidbarkeiten von oben bis unten durchlebt. Der Rausch vergrößert die Anzahl der Möglichkeiten, die man im Leben zur Verfügung hat. Deshalb muss man sich berauschen, wenn man mit wichtigen Fragen, mit existentiellen Problemen konfrontiert ist, wenn man entscheiden, wenn man arbeiten muss. Ich stecke in keinem Beruf mehr, ich erfülle keine Wünsche mehr, ich spiele nicht mehr mit eurer Phantasie. Ich schreibe nicht durch die Brille eines Studenten oder eines Künstlers, ich bin kein Gelehrter, ich bin nicht der Sohn einflussreicher Eltern, ich stehe in keinem Lexikon, ich stecke in keiner Celebrity-Parallelwelt fest, ich bin für jeden erreichbar.

All meine Texte sind nur als Hintergrundmusik zu verstehen, die das Gespräch, dass der Leser während des Lesens mit sich selbst führt, angenehm beeinflussen sollen. Ich will nur abfärben, nicht überzeugen. Will man es wagen, mich in die Manege zu lassen? Ich kann aber auch bestens damit umgehen, ums Zelt zu schleichen und hier und da einen Raub zu begehen und vielleicht bastel ich an ein paar echten Schandtaten für euch und für mich. Können Krimi-Fans echte Morde kunstvoll finden?

Sammle genug Drogen-Erfahrungen, damit du weißt, unter welcher Droge du sterben willst.

Bekifft sein heißt, eine Negativversion eines Schlafwandlers zu sein: du wachschlummerst. Du bist ein Träumender in einer Wachwelt, während du im gewöhnlichen Traum ein Träumender in einer Traumwelt bist.

Führe ich nicht seit Jahren nur einen repetitiven Monolog vor zukünftigen Verlegern, deren gegenwärtige Gesichtslosigkeit mir das Gefühl gibt, hinter Gespenstern herzusein? Vielleicht bin ich derart unbrauchbar, dass sogar meine Unbrauchbarkeit unbrauchbar ist.

Du hast im Leben nur eine Aufgabe: Leute zu finden, die es dir erträglich machen, ein Versager zu sein, Leute mit denen es viel mehr Spaß macht, mit Pauken und Trompeten gegen die graue Mauer der Verhältnisse zu krachen. Wer unabhängig ist, hat nur eine Chance, wenn er unabhängig bleibt. Ich muss skeptisch gegenüber meinem Beruf, meinem Handwerk und meinem Arbeitsmaterial bleiben können! Mehr wünsche ich mir gar nicht, jetzt am Ende meiner Lust, auf irgendetwas anderes einzugehen als auf meine Lust, auf nichts mehr einzugehen, was mir in den Sinn kommt. Das Auslassen von Worten, das Verschweigen von Gedanken und eine plötzliche, unerklärliche, unumkehrbare Entscheidung, einfach loszulassen.

Ich fühle mich erniedrigt von jeder Situation, in der ich nicht in der Lage bin, zu schreiben, so als würde ich, wenn ich nicht schreibe, auch nicht existieren.

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